Wie die Welt in den Frieden schlitterte

Erstellt am 12.12.2018

Buchvorstellung und Vortrag in der Evangelischen Stadtakademie

Gemeinsam gestalteten (v.l.) Arno Lohmann, Leiter der Stadtakademie, der Buchautor Prof. Jörn Leonhard, sowie der Historiker Rudolf Tschirbs einen intensiven Einblick in die Umbrüche nach dem Ersten Weltkrieg und die Folgen des Versailler Friedensvertrags. Foto: Frauke Haardt-Radzik

 

Die Verträge sind gemacht, der bis dahin größte Krieg, den die Welt je erlebt hatte, ist beendet. Doch auch nach dem Friedensschluss von Versailles vor 100 Jahren, der einen Schlusspunkt unter den Ersten Weltkrieg setzte, war längst noch nicht Schluss. "Der überforderte Frieden: Versailles und die Welt 1918-1923" lautet der Titel des neuen Buchs des Freiburger Professors Dr. Jörn Leonhard, das er jetzt in der Evangelischen Stadtakademie vor großem Publikum vorstellte.

"Aus der Art und Weise wie der Krieg zu Ende ging, entstanden viele Probleme, mit denen wir bis heute zu kämpfen haben“, formulierte der Historiker, der bereits mit seinem 2014 erschienenen Werk „Die Büchse der Pandora“ großes Aufsehen erregt hatte.

Was geschah mit den Menschen in der damaligen Zeit, wie reagierten sie auf die Friedensverträge, wieso schlitterte die Welt danach schon so bald in den nächsten Weltkrieg? Im Frühjahr 1919 reisten Diplomaten und Staatsmänner aus aller Welt nach Paris, um diesen Krieg zu beenden und eine neue Friedensordnung zu schaffen.

Denn das europäische Gleichgewichtssystem, so Leonhard, war zerbrochen. Aus dem Weltkrieg entstand eine neue Dynamik. Krisenherde weltweit waren mit dem Friedensschluss 1918 keineswegs beendet. Der lange Weg vom Ersten Weltkrieg führte zunächst zum Waffenstillstand, dann zu Friedenskonferenzen und schließlich zu den formalen Friedensverträgen.

"Doch das Kriegsende markierte auch den Umbruch von Monarchien zu Republiken, von begrenzter politischer Teilhabe zur Praxis der Massendemokratie in freien Wahlen, die jetzt in vielen Gesellschaften zum ersten Mal stattfanden.“ Im langen Übergang vom Krieg in den Nachkrieg zerfielen ganze Strukturen, und europäische Reiche, etwa das russische Zarenreich mit der Oktoberrevolution 1917.

"Die Vielfalt multiethnischer und multireligiöser Imperien auf dem europäischen Kontinent, sie wich einer Landkarte neuer Nationalstaaten.“ Und die neuen demokratischen Ideen und Bewegungen erreichten schließlich auch die europäischen Kolonialgebiete.

All diese Umbrüche, Revolutionen, Aufbrüche und Untergänge machten die Suche nach stabilem Frieden schwierig. Die daraus resultierenden Probleme reichen bis in die Gegenwart. „Viele der Gewalträume im südlichen Osteuropa, aber auch in der Ukraine, im Nahen und mittleren Osten liegen in den Zonen der ehemaligen Imperien der Habsburger Monarchie, des Zarenreichs und des osmanischen Reichs“, wies Leonhard auf die weltweiten Veränderungen und bis heute andauernden Konfliktherde hin, die ihren Ursprung, so belegt der Autor in seinem Buch, in den Umwälzungen nach Ende des Ersten Weltkriegs haben.

Dabei geht es Leonhard darum, all dies an konkreten Personen und ihren Geschichten festzumachen. Und davon erzählte er in den sechs Kurzgeschichten, die er Vignetten nennt. Die erste handelt von Franz Kafka. „Während draußen in den Straßen Prags die Unruhe spürbar zunahm, diagnostizierte der am 14. Oktober 1918 von der Familie in das Haus am Altstädter Ring herbeigerufene Arzt schon am Mittag eine Körpertemperatur von über 40 Grad. Für den Schriftsteller, bei dem 1917 eine Lungentuberkulose diagnostiziert worden war, bedeutete das unmittelbare Lebensgefahr. Als Franz Kafka die Krankheit, wir wissen heute, es war die spanische Grippe, im November 1918 überlebt hatte, und vom Balkon des Hauses am Altstädter Ring blickte, da war die alte Welt untergegangen.“  Und das Leben des Schriftstellers hatte sich, während er mit Grippe im Bett lag, gewandelt von dem jüdischen Untertan der KUK – Monarchie zu einem Bürger der neuen tschechoslowakischen Republik.

Auch die weiteren Vignetten verdeutlichten symbolhaft die massenhaften Umwälzungen, die allesamt belegen, so Leonhard, dass der Friedensschluss nach dem Ersten Weltkrieg ein überforderter war.
An den Vortrag schloss sich eine ausgiebige Diskussion an, geleitet und moderiert vom Historiker Dr. Rudolf Tschirbs. „Der überforderte Frieden: Versailles und die Welt 1918-1923“ ist gewiss keine leichte Kost, doch wer sich für geschichtliche Zusammenhänge und intensive Einblicke in die dramatischen weltweiten Umbrüche interessiert, die sich als Folge des Ersten Weltkriegs ergaben und bis heute nachwirken, sollte das Buch auf seinen Wunschzettel schreiben.

Frauke Haardt-Radzik