„Dank sei Gott! Wir haben überlebt!“

Erstellt am 06.11.2018

Bochumer Theologen im Nordirak

Von Bochum in den Norden des Irak führte in diesem Jahr eine Reise, die Dr. Claudia Rammelt und Jan Gehm als Mitglieder einer Delegation der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland unternahmen. Von ihren Begegnungen und Eindrücken berichten die Wissenschaftliche Mitarbeiterin und die studentische Hilfskraft, beide vom Lehrstuhl für Kirchen- und Christentumsgeschichte an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität:


Die Weite der Ninive-Ebene, in der seit biblischen Zeiten Christen leben, liegt vor uns; dahinter die beeindruckende Bergwelt von Amadiya. So malerisch präsentiert sich der Nordirak, wenn er mit dem Kleinbus durchfahren wird - wären da nicht die Checkpoints, immer wieder Militär, Schützengräben, Zerstörungen. Infolge des Einmarsches des sogenannten Islamischen Staates (IS) im Sommer 2015 wurden weite Teile des Iraks und der autonomen Region „Kurdistan“ besetzt und zerstört.

In Baschika erzählt der Priester der syrisch-katholischen Kirche, wie in seiner Kirche geschossen wurde. Er zeigt auf die Kirchenwände: „Seht, hier sind noch die Einschusslöcher. Das Kreuz war abgefallen. Wir haben es wieder aufgehängt.“ Ehemals gab es ca. 500 Familien, die der Gemeinde angehörten; insgesamt lebten ungefähr 1.000 christliche Familien in Baschika. Bisher sind sieben Familien seiner Gemeinde zurückgekehrt.

Der Priester fährt fort: „Ich lebe derzeit in Dohuk und betreue auch die Gemeinde dort, denn in der Nacht zeigt sich die Wahrheit, nicht am Tag.“ Was er damit meint wird klar, wenn man sich die Situation vorstellt. Eine weitgehend entvölkerte, von Ruinen gezeichnete und Mangels Elektrizität stockdunkle Stadt unweit der ehemaligen IS-Hochburg Mossul. Gegenüber liegt die katholische Kirche, die wir auch betreten. Das Ausmaß der Zerstörung ist unverkennbar: Kaputte Bänke, umherliegende Gesangbücher, ein zerstörter Altar, auf alles hat sich Staub gelegt. Blinde Zerstörungswut ist hier anzutreffen. Der Kollege des Priesters, der uns begleitet, hat noch nicht aufgeräumt, weil er sich fragt, für wen und mit wem er das machen soll.

In einer anderen Stadt nicht weit von Mossul liest man auf Arabisch „Dieses Gebäude gehört dem Islamischen Staat“. Immer wieder finden wir diese Schriftzüge an Häuserwänden. Manchmal steht auch nur „Islamischer Staat“ an den Wänden. Und auf der Tür einer Kirche steht „Kein Platz für das Kreuz im islamischen Land“. In der Kirche selbst lassen sich ähnliche Schriftzüge finden, allerdings in Deutsch verfasst. Ausgebrannte Häuser, Trümmer auf der Straße und eingestürzte Wände prägen das Stadtbild.

Die christliche Stadt Batnaya im Nordirak ist eine Geisterstadt. Die Stadt, in der früher 850 christliche Familien lebten, wurde 2014 vom IS eingenommen. Erst über zwei Jahre später, im November 2016, konnten die irakische Armee und die kurdischen Peschmerga einige der vom IS besetzten Dörfer rund um die Region Mossul im Norden des Iraks zurückerobern.

Das zuvor in großen Teilen prosperierende Gebiet von Kurdistan erreichten in der Zeit der IS-Eroberungen große Flüchtlingsströme aus Syrien, aber auch aus anderen Teilen des Irak. Manche der geflohenen Menschen konnten bei Verwandten und Bekannten unterkommen, viele wohnen in sogenannten Informal Settlements.

So besuchten wir 17 Familien, die inmitten der Bergwelt von Amadiya siedeln. Sie alle stammen aus dem knapp 200 km entfernten Distrikt Sindschar, dem Hauptsiedlungsgebiet der Jesiden, im Grenzgebiet zu Syrien. Sie flohen, als der IS die Städte und Dörfer besetzte.

Auf ihrer Flucht hörten sie von einem ungenutztem Stück Land. Die nicht mehr genutzten Schafställe wurden gereinigt und mit Hilfe von Planen Vorzelte gebaut. Wenige Quadratmeter teilen sich in diesen provisorischen Unterkünften bis zu elf Menschen. Manche Familien haben einen Kühlschrank, worauf sie stolz sind. Immerhin haben sie einen gemeinsamen frostsicheren Wassertank und sind an das öffentliche Stromnetz angebunden. Der Arzt kommt einmal im Monat vorbei, um eine Minimalversorgung vorzunehmen. Ein Mann sagt ganz unverblümt: „Du könntest hier keine Woche überleben.“ Vorwurfsvoll formuliert ein anderer: „Alle Hilfsleistungen bleiben mittlerweile aus! Wir stehen vor dem Nichts!“

Viele andere Geflüchtete, vor allem Jesiden, aber auch Christen und Turkmenen, leben seit den Kämpfen in Camps. Eines davon ist das Sharya-Camp in der Nähe von Dohuk, an dessen Eingang bewaffnete Wachleute postiert sind, die uns zunächst nicht passieren lassen. Das Verhandlungsgeschick unserer Partner vor Ort ermöglicht schließlich doch den Eintritt.

Rund 3.000 Zelte auf gegossenen Betonplatten drängen sich dicht an dicht, Reihe für Reihe, auf dem sonst kargen, staubigen Untergrund, eine fast unüberblickbare Menge. Der Raum zwischen den Zelten wird mal als Lager, mal als Küche oder einfach nur um Wäsche zu trocknen genutzt. Wo Platz ist, werden kleinere Anbauten gemacht. Den Abschluss jeder Doppelreihe bildet ein desolater Sanitärcontainer, den sich mindestens 100 Menschen teilen. An der zentralen Querstraße finden sich vereinzelt improvisierte Läden und ein Bereich mit weiteren Sanitärcontainern.

Die im Sharya-Camp lebenden Menschen waren auch aus ihren Dörfern im Sindschar-Gebirge geflohen. Ein Familienvater erzählt, dass sie das Auto schließlich stehen lassen mussten, um die Berge zu überqueren. „Wir gingen zu Fuß weiter und blieben sieben Tage in den Bergen“, berichtet der Mann weiter. Auf die Frage, wie sie überleben konnten, antwortete er: „Dank sei Gott! Wir wissen es nicht, wir haben überlebt.“ Immer wieder wiederholt der Mann, wie dankbar er ist, dass er und seine Familie am Leben geblieben sind. Zugleich möchte er gern das Leben im Zelt überwinden. Drei Zelte haben er und seine Familie. In einem wohnt er mit seinen Kindern, das andere ist für Haushaltsgegenstände und in dem dritten hat sein Sohn mit seiner Familie Platz gefunden. Die Zelte sind einfach, vor allem wenn es regnet wird das Leben zum Problem, aber auch in den heißen Sommermonaten ist es schwer, es im Zelt auszuhalten. Er träumt von einem Haus, in das er wieder mit seiner Familie ziehen kann.

Neben den zerstörten Häusern in ihren Dörfern und wirtschaftlicher Perspektivlosigkeit ist es der große Vertrauensverlust, der eine Rückkehr erschwert. Emmanuel Youkhana, Leiter der Hilfsorganisation CAPNI (Christian Aid Programme Northern Iraq), die sich seit vielen Jahren besonders in der Region um Dohuk engagiert, sagte: „Der IS in den Köpfen wird noch lange gegenwärtig sein, auch wenn die Kämpfer abgezogen sind.“ Die Gräben zwischen den Religionen und Konfessionen sind groß. Die Frage nach dem Zusammenleben der Menschen nach den Ereignissen stellt sich dringlich und deren Beantwortung wird eine maßgebliche Aufgabe für die Zukunft sein, um den Menschen neben einer materiellen Grundlage ein Leben in ihrer Heimat wieder möglich zu machen.

Während der Fahrt durch den Nordirak

Blick in ein Flüchtlingscamp.

Die zerstörte syrisch-katholischen Kirche in Baschika. Fotos: Stefan Rammelt